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Kurzgeschichten

Hier kann man meine sämtlichen veröffentlichten Kurzgeschichten lesen.



1. Kurzgeschichte: Ich sah den Tod

Ich ging durch den Flur und fühlte mich allein. Ich sah nicht zurück, aber auch nicht vor. Ich ging einfach, ohne Halt und ohne Ziel. Ich verließ die Klasse, weil mich nichts mehr hielt, der Lehrer ließ mich gehen, weil er dachte ich kehrte zurück. Doch ich bin mir nicht sicher.
Ich ging durch die Tür, mit Schwung schlug sie hinter mir zu, der Wind zerzauste mir die Haare. Mein Blick schweifte zur Uhr, es war viertel nach zwölf, Zeit zu gehen, dachte ich noch. Langsam lief ich auf die Treppe zu, doch ich schaute nicht hin, die Zeiger der Uhr hielten meinen Blick fest im Griff. Mein Fuß wollte vor treten, doch er fand keinen Halt, ich hatte die oberste Stufe nicht getroffen. Ich riss meine Augen auf und drehte den Kopf nach vorn, doch ich sah schon die Steinstufen näher kommen. Meine Beine dehnten sich, ich machte beinahe Spagat, doch mein Kopf kam näher zur Treppe, und da stieß ich an. Ich schloss die Augen, war viel zu betäubt, ich spürte den Fall, ich spürte die Schläge, die Stoße und all das, doch mein Geist trieb ab und ich merkte doch nichts.
Wie hinter einem Umhang, verschleiert, versteckt, öffnete ich die Augen und spürte doch nichts. Mein Bein lag falsch, ich konnte es nicht richtig spüren, meinen Arm, den konnte ich nicht heben.
Wo war der Schmerz? Mein vernünftiger Geist schien darauf zu warten, doch mein Geist der war stumpf, er war da, doch nahm trotzdem nichts wahr. Die Augen starr offen, schaute ich mir die unterste Steinstufe der Treppe an. Unfähig den Kopf zu drehen schaute ich auf den rotverschmierten Fleck an, der langsam von der Stufe floss. Was ist das für ein rotes? Was machte es hier? Ach so, rief mein logischer Geist, das wird wohl dein Blut sein. Du bist die Treppe runtergeflogen, du bist verletzt, du spürst Schmerzen, du musst Leiden. Doch ich spürte nichts.
Ich weiß nicht wie viel Zeit verging. Ich starrte und lag, mehr geschah nicht. Atmete ich noch? Sicherlich. Meine Gedanken rasten, ich dachte das unmöglichste Zeug, über das Mittagessen, mein Ranzen im Zimmer, meinen Laptop daheim auf dem Schreibtisch. Wo blieb den der Schmerz?
Müde schaute ich die Stufe an. Meine Gedanken erschlafften, ich trieb ab. Nur noch matt nahm ich Stufe und Stein, die kalte Luft und meine eigene Kälte war, im Nebenwinkel sah ich weiß.
Da ertönte ein schriller Schrei. Ich öffnete die Augen. Wann hatte ich sie geschlossen? Eine aus meiner Klasse stand am Treppenkopf, schaute auf mich nieder und schrie ganz schrill. Sie rief was vom Blut, gebrochenen Knochen und Tod. Doch ich war erleichtert, endlich konnte ich fort. Man hatte mich gefunden, man würde mich nicht vergessen. Ich schloss zum letzten Mal die Augen und mein Geist trieb dahin.
Ich saß auf meinem Rad und schoss die Straße entlang. Kurz dachte ich an Treppen und Schmerz, an Fall und Schrei, doch ich fühlte mich so unendlich frei. Die Straße, die ich jeden Tag fuhr, jeden einzelnen Tag in der Woche, der Weg zu mir nach Haus. Ich spürte keinen Wind in der Haaren und spürte mich nicht treten, auch sah ich meine Hände nicht auf dem Lenker, doch ich war da, ich war auf dem Fahrrad und ohne mein Zutun flog es über die Straßen.
Es herrschte dichter Verkehr, so wie immer nachhause. Die Autos fuhren, die Ampeln blinkten, die Bäckerei war voll besucht. An allem fuhr ich lachend vorbei. Ich lachte und lachte und fühlte mich fei. So gut wie noch nie, so sorglos und froh, wie kam das den nur?
Ich fuhr an die Kreuzung und ein Auto kam um die Ecke. Ich schaute erschrocken, doch das Auto glitt durch mich hindurch. Ich sah nur kurz schwarz und wieder die freie Straße.
Mein Blick ging stur geradeaus. Weder nach links, noch nach rechts, einfach nur nach vorn. Mein Fahrrad fuhr schnell, so schnell wie ich es noch nie vermochte. Dabei trat ich nicht mal in die Pedale und berührte nicht den Lenker, den ich sah weder Hand noch Fuß.
Plötzlich war ich daheim. Bei mir im Wohnzimmer. Wie bin ich den hier her gekommen? Meine Gedanken waren beim Rad, wo war es denn hin? Wo bin ich denn hin? Doch irgendwas in mir wusste, ich war gar nicht hier und war gar nicht dort.
Mein Laptop stand auf dem Wohnzimmertisch. Geöffnet, eingeschalten, hochgefahren und eingeloggt. ICQ war offen. Ich schaute auf die Anzeige. Ich hatte viele, viele Nachrichten, von so vielen Leuten, und doch waren sie gleich. „Wo bist du? Melde dich doch! Lebst du noch?“
Dann war ich in der Küche. Einfach so, aus heiterem Himmel. Meine Mutter saß am Küchentisch. Sie weinte. Ich weiß nicht warum.  So elendig weinte sie. Doch aber ich ging nicht näher. Ich blieb stehen und schaute die zu, einfach so, weil ich nicht dahin konnte wo ich wollte. Einfach weil ich schauen musst. Schauen, bevor ich ging. Gehen, wohin ?
Es klingelte an der Tür. Plötzlich stand meine Mutter an der Tür und öffnete sie. Ein Mann vollkommen in Schwarz stand da, und er sagt etwas, doch ich verstand nicht was. Da weinte meine Mutter auf, lauter als zuvor. Doch ich stand einfach nur da, und konnte nichts tun.

Ich spürte nichts. Ich sah nichts. Ich hörte nichts. Ich war nicht. Und doch… da war ich doch?

Auf einmal spürte ich den Schmerz, eine riesige Explosion, ich schrie nur noch. Ich schrie und schrie und wollte erbarmen. Da legte sich eine kühle Decke um mich und hüllte mich ein. Sanft und beruhigend lag mein Geist. Doch ich war nicht frei. Ich war gebunden, an Schmerz und Sorge, an Angst und Leiden, ich wusste es, ich lebte noch. Gebunden an meinen Körper, gebunden an Schmerz und Sorge und doch war ich froh. Ich war da.

Von Laura Bürg.
Geschrieben: 9.10.10